Mündliche Verhandlung des Parité-Gesetzes am Verfassungsgericht Brandenburg
20. August 2020 (ca. 10 bis 19 Uhr)
Dr. Uta Kletzing & Verena Letsch (Paritätsteam des Frauenpolitischen Rates)
Das Parité-Gesetz wurde am 31. Januar 2019 vom Brandenburgischen Landtag verabschiedet. Die damalige rot-rote Landtagsmehrheit zeigte gemeinsam mit der damaligen Oppositionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen (welche die Parité-Gesetzgebung initiiert hatte) den in Brandenburg vorhandenen politischen Willen, endlich wirksame – sprich: gesetzliche – Maßnahmen für einen geschlechterparitätischen Landtag zu ergreifen.
Parité-Gesetze, so auch das Brandenburgische, galten von Anfang an als rechtlich umstritten. Das war dem Landtag bei seiner Entscheidung sehr bewusst. Der damalige Brandenburgische Innenminister Karl-Heinz Schröter sagte einige Minuten vor der Abstimmung am 31.01.19: „Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf betritt das Land Brandenburg Neuland. […] Ein solches Pioniervorhaben ist selbstverständlich nie ganz ohne Risiko.“
Mit „Risiko“ meinte er die mögliche Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Erwartungsgemäß wurden schriftliche Beschwerden gegen das Gesetz eingereicht, u.a. von NPD, AfD und Einzelpersonen der AfD (Lena Duggen, Andreas Kalbitz, Birgit Bessin, Daniel Freiherr von Lützow). Diese wurde am 20.08.20 öffentlich vor dem Verfassungsgericht Brandenburg verhandelt.
Zusammenfassend lässt sich zur mündlichen Verhandlung sagen, dass Prof. Jelena von Achenbach den Brandenburger Landtag mit starken Argumenten vor dem mit fünf Richtern und vier Richterinnen besetzten Verfassungsgericht des Landes vertrat. Anstatt von einer Pflicht zu einem Paritätsgesetz spricht sie von einem Handlungsauftrag an den Gesetzgeber, für ein pluralistisches Demokratiemodell zu sorgen, und bekräftigt das Frauenfördergebot zur Überwindung der dafür auszuräumenden strukturellen Hürden. Die Vertreter der NPD und AfD argumentieren dagegen nicht überzeugend. Sie bestreiten sehr grundsätzlich und ohne empirische Evidenz die strukturelle Benachteiligung von Frauen und damit die politische Ausgangslage, die den Gesetzgeber zur Verabschiedung des Parité-Gesetzes bewogen hat.
Beteiligte Personen
Die NPD wurde von Peter Richter, Diplom-Jurist und Rechtsanwalt, die AfD von Prof. Karl Albrecht Schachtschneider, bis 2005 Professor für Öffentliches Recht, vertreten. Der Landtag Brandenburg (als Gesetzgeber des Parité-Gesetzes) wurde von Prof. Jelena von Achenbach verteidigt. Vier Richterinnen und fünf Richter gehören dem Brandenburgischen Landesverfassungsgericht an; durch die Verhandlung führte derVorsitzende Richter Markus Möller.
Die Landtagspräsidentin Prof. Dr. Ulrike Liedtke saß während der gesamten Verhandlung neben Prof. von Achenbach. Damit wurde für alle Beteiligten sichtbar, dass der politische Wille das Landtags Brandenburg für das Parité-Gesetz unverändert vorhanden ist. Die Landtagspräsidentin trug zu Beginn der Verhandlung – neben den drei Verfahrensbevollmächtigten – das vierte Eingangsstatement vor. Das Gericht solle ebenso mutig sein wie es der Landtag damals war und gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten rechtliche Türen öffnen, so wie damals der Landtag politische Türen geöffnet habe.
Im Publikum saßen zudem hochrangige Vertreter*innen der Parteien, die im Januar 2019 für das Gesetz gestimmt hatten: z.B. der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion und die frauenpolitische Sprecherin der Bündnis 90/Die Grünen-Landtagsfraktion. Bereits am Vortag wurde in einem gemeinsamen Statement von Landtagspräsidentin, frauenpolitischen Sprecherinnen der Landtagsfraktionen und einigen Vorsitzenden der Landtagsfraktionen der politische Rückhalt für Parität in Brandenburg auch in der neuen Legislatur nochmal überparteilich verdeutlicht.
Das Parité-Gesetz genießt breiten Rückhalt nicht nur in der Politik, sondern vor allem auch in der Zivilgesellschaft. Das war jenseits der Anwesenheit im Gerichtssaal auch in der öffentlichen Versammlung vor dem Gerichtsgebäude am Morgen der Verhandlung und in der Kampagne „Wir brauchen Parität“ deutlich geworden, beide vom Frauenpolitischen Rat des Landes Brandenburg initiiert.
Die Anwesenheit zahlreicher Pressevertreter*innen signalisierte dem Gericht das große öffentliche Interesse an der Verhandlung.
Die Verhandlung
Die schriftliche Tagesordnung der Verhandlung gab dem etwa 9-stündigen Verhandlungsmarathon (inkl. zwei Pausen) die Grobstruktur: Eingangsstatements, gefolgt von der Erörterung der Argumente entlang von Fragen des Gerichts, Abschlussstatements, alles eingebettet in jede Menge Formalien.
Die Richter*innen gaben für unsere (nicht-juristische) Wahrnehmung der Breite der Argumente für und gegen das Parité-Gesetz ausgewogenen Platz. Dieser wurde von den drei Verfahrensbevollmächtigten sehr unterschiedlich genutzt.
NPD-Eingangsstatement: Welche Privilegien, was meinen Sie?
Der NPD-Verfahrensbevollmächtigte eröffnete sein Eingangsstatement damit, dass er die strukturelle Benachteiligung von Frauen beim Zugang zur Landtagskandidatur grundsätzlich in Abrede stellte (ohne auf spätere Nachfrage genau definieren zu können, was „strukturelle Benachteiligung“ in seinen Augen sei); das sei „grober Unfug, der mit der Realität nichts zu tun hat“ und „ideologisches Dogma“. „Jeder, der kandidieren will, kann kandidieren!“ Als Zuschauerinnen empfanden wir es als geradezu peinlich, dass ihm offensichtlich zentrale Fachkenntnisse zu der Realität fehlen, die er – eigentlich – fachkundig beurteilen soll? Er warf dem Landtag vor, er sei seiner empirischen „Ermittlungspflicht“ zur Fundierung des Gesetzes nicht nachgekommen. Es handle sich um eine „allenfalls geringe Unterrepräsentanz“ von Frauen, weshalb der Eingriff „staatlich verordneter Kandidatinnen“ in Form einer gesetzlich vorgegebenen Ergebnisgleichheit unverhältnismäßig gravierend sei.
Dass es zwischen der geschlechterbezogenen Zusammensetzung der Parlamente und der Umsetzung des staatlichen Gleichstellungsauftrags einen Zusammenhang gibt, wurde im Statement des NPD-Verfahrensbevollmächtigten nicht thematisiert. Generell wurde von NPD und AfD jeglicher Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit auf politische Entscheidungen geleugnet. Beide Verfahrensbevollmächtigten bestanden darauf, dass die von Parlamentarier*innen getroffenen Entscheidungen frei von jeglichem Einfluss ihrer Geschlechtszugehörigkeit seien. „Gemeinwohl“ sei geschlechterneutral. Die NPD führte das Parité-Gesetz als Beispiel an, dass auch ein Landtag „mit Männerüberhang“ sich für die Belange von Frauen einsetzen könne. Was für ein Kampf die Durchsetzung des Parité-Gesetzes war, wird dabei einfach übergangen. Es ist in unseren Augen eher ein Beispiel dafür – und die Klagen dagegen unterstreichen einmal mehr – wie mühsam die Durchsetzung von Fraueninteressen in männerüberhängigen Parlamenten und gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen bleiben wird.
AfD-Eingangsstatement: Geschlechterzugehörigkeit überall relevant, aber nicht im Wahlrecht
Der AfD-Verfahrensbevollmächtigte widmete im Prinzip sein gesamtes Eingangsstatement dem Argument, dass für die Wählbarkeit einzig „das Menschsein“ entscheidend sei und das Wahlrecht der Garant der „Würde des Menschen“ sei, die durch seine freie, gleiche, allgemeine Möglichkeit der Teilhabe an Gesetzgebung hergestellt werde. Die Geschlechterzugehörigkeit „ist sonst ein wichtiger Unterschied“, aber „das Wahlrecht darf nicht danach unterscheiden“ (was wohl nicht nur in unseren Ohren paradox klingt). Sie dürfe keine Rolle bei der Kandidat*innenaufstellung spielen, hier ginge es ausschließlich um – aus seiner Sicht geschlechtsneutrale – Fragen der Bestenauslese wie „Wem geben die Parteien ihr Vertrauen? Wen halten die Parteien für geeignet?“. „Die Parteien können ja nicht mehr die Besten aufstellen“ mit dem Parité-Gesetz. „Der Beste ist, wen das Volk wählt“, ergänzte der NPD-Verfahrensbevollmächtigte.
Eingangsstatement Prof. von Achenbach: Parité-Gesetz verfassungsgemäß
Prof. von Achenbachs Eingangsstatement war für uns in vielerlei Hinsicht ein inhaltlicher wie rhetorischer Genuss: rechtlich versiert (nicht ideologisch verbrämt), dicht (nicht lamentierend), unaufgeregt (nicht empört). Zunächst trug sie drei Argumente vor, warum das Parité-Gesetz den Wahlrechtsgrundsätzen entspricht, nämlich:
- Der Gesetzgeber hat eine Gestaltungsaufgabe bezüglich des Wahlrechts. Das Verfassungsrecht rahmt diese Gestaltung, aber die Entscheidung trifft der Gesetzgeber.
- Das Wahlrecht ist änderbar, es sieht keinen Besitzstandsschutz (für Einzelne, für Parteien) vor. Das heißt, die Gleichheit muss innerhalb des geltenden Wahlsystems gewährleistet sein, der Vergleich zu vorherigen oder weiteren möglichen Wahlsystemen ist unerheblich.
- Der Gesetzgeber darf Parteienrechte und Wahlrechtsgrundsätze einschränken, wenn dies einem legitimen Zweck dient und der Eingriff verhältnismäßig ist.
Warum Legitimität und Verhältnismäßigkeit gegeben sind, unterlegte sie ebenfalls mit drei Argumenten:
- Der Gesetzgeber will mit dem Parité-Gesetz – genauer: durch die Förderung der Integrationsfunktion von Wahlen – die Offenheit der parlamentarischen Willensbildung sicherstellen bzw. verbessern.
- Das dauerhaft ungleiche Geschlechterverhältnis im Landtag rechtfertigt die Annahme, dass dessen Willensbildung durch den strukturellen Vorteil für ein Geschlecht unzulässig verengt ist.
- Das Parité-Gesetz verletzt die Parteienfreiheit nicht, denn Parteien sind keine privaten Vereine. Sie sind verfassungsrechtliche Organe, Mittler zwischen Staat und Gesellschaft, „Gatekeeper“ der Zugänge zu den Parlamenten. Die Paritätsvorgabe konkretisiert das Gebot der innerparteilichen Demokratie.
Ausgewählte Fragen des Gerichts und Argumentationsstränge der Verhandelnden
Die Fragen des Gerichts wurden teilweise an alle drei Verfahrensbevollmächtigten, teilweise an einzelne gestellt.
Fordert das Demokratie-Prinzip einen geschlechterparitätischen Landtag?
Gleich die erste Frage „Fordert das Demokratie-Prinzip einen geschlechterparitätischen Landtag?“ lud Prof. von Achenbach dezidiert dazu ein, sich zu der Argumentationsstrategie von Prof. Silke Laskowski zu positionieren. Diese hatte in Thüringen das Parité-Gesetz und zuvor in Bayern die Popularklage als Verfahrensbevollmächtigte vor dem jeweiligen Landesverfassungsgericht rechtlich vertreten. Anders als Prof. Laskowski, leitet Prof. von Achenbach aus dem Demokratie-Prinzip keine Verpflichtung zu Parität im Landtag ab, jedoch eine verfassungsrechtliche Zulässigkeit.
Die Paritätsvorgabe ergänze das Demokratie-Prinzip bezüglich der Gleichstellung im öffentlichen Leben. Dem Brandenburgischen Landtag läge ein „pluralistisches Demokratiemodell“ zugrunde mit dem Ziel eines offenen parlamentarischen Prozesses ohne Verzerrungen (bias). Parität fördere die Offenheit des parlamentarischen Prozesses, weil die Wahlvorschläge – als integraler Bestandteil des Wahlvorgangs – die Grundlage dafür bilden, wer überhaupt am parlamentarischen Prozess mitwirkt.
Der AfD-Verfahrensbevollmächtigte warnte vor einem solchen pluralistischen Modell: „Jetzt haben sich die Frauen durchsetzen können, dann kommen die Religionen.“ Und der NPD-Vertreter warnte davor, einfach so am Demokratie-Prinzip „herumzuschrauben“.
Angesichts der Thüringer Urteilsbegründung ist auch die Brandenburgische Verfassungshistorie bezüglich des Gleichstellungsauftrags relevant und wurde vom Gericht mit der Frage „Wie beurteilen Sie die Diskussion um eine Paritäts-Regelung in der Brandenburgischen Verfassung bereits im Jahr 1991?“ eingebracht. Prof. von Achenbach bewertete die damals diskutierte und verworfene Formulierung als „Nullsummenspiel“: „Die Parität wurde nicht formuliert, aber auch nicht ausgeschlossen.“
Gesetzgeber übersetzt verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrag in konkrete Maßnahmen
Eine weitere Frage griff die Rollenverteilung auf, die Prof. von Achenbach in ihrem Eingangsstatement zwischen Gesetzgeber und Verfassung bezüglich des Wahlrechts formuliert hatte: Das Verfassungsrecht rahme, aber die konkrete Ausgestaltung übernehme der Gesetzgeber. Prof. von Achenbach argumentierte, dass der verfassungsrechtliche Gleichstellungsauftrag eine „Querschnittsnorm auch innerhalb der Verfassung“ sei. Auch formuliere eine Verfassung lediglich Ziele („wirksame Maßnahmen“), jedoch nicht deren konkrete Umsetzungsmaßnahmen. Die „Ehe für alle“ zeige, dass der „Gesetzgeber keine textuelle Verfassungsformulierung braucht“, um gesetzliche Maßnahmen zu formulieren.
Männer können jetzt nur noch kandidieren, wenn Frauen auch kandidieren
Eine Frage an die NPD und AfD explizierte dann den Argumentationsstrang, der sich seitens beider Parteien durch die bisherige Verhandlung zog: die Sorge bzw. das eigene „Parteiproblem“ (Zitat eines Richters), keine bzw. nicht genügend Frauen zu finden, um den vielen kandidierfreudigen Männern ihre Kandidaturen zu ermöglichen, denn: „Männer können jetzt nur noch kandidieren, wenn Frauen auch kandidieren!“. Die Frage des Gerichts lautete also: „Obwohl Ihnen in dem Gesetz eine Übergangsregelung bis zur nächsten Landtagswahl von vier Jahren gewährt wird: Wird keine paritätische Wahlliste bei NPD/AfD möglich sein?“
Der NPD-Vertreter vertrat entlang seines mantraartig wiederholten Beispiels der NPD-Wahlliste mit ausschließlich zehn KandidatEN, die mit dem Parité-Gesetz als „reine Männerliste […] zu Wahlrechtsausschluss“führe, erneut die Position, dass das Gleichstellungsgebot ein staatlicher Auftrag, jedoch kein Parteienauftrag sei. „Ja, Parteien müssen dafür sorgen, dass jede die will, kandidieren darf. Aber nein, Parteien müssen nicht dafür sorgen, dass Frauen kandidieren wollen.“ Der AfD-Vertreter pflichtete bei: „Parteien sind nicht zuständig für die Engagementmöglichkeiten von Frauen“.
Die NPD-Aussage, der Staat dürfe die Parteien nicht für seine Ziele instrumentalisieren, provoziert die Nachfrage eines Richters, wie der Staat denn anders als durch Gesetze handeln solle. Darauf entgneten sie, der Staat – nicht die Parteien – solle für mehr Frauen in den Parteien sorgen, beispielsweise durch Kampagnen etc. Einig waren sich beide auch darin, dass die Bestenauslese ausschließlich den Parteien obliege. „Und auch zehn Männer hintereinander können die Besten sein“, solidarisierte sich der AfD-Verfahrensbevollmächtigte mit dem NPD-Vertreter.
Der AfD-Vertreter wies die Relevanz der eigenen Parteisituation für seine Bewertung des Parité-Gesetzes jedoch von sich. Die Verfassungswidrigkeit des Parité-Gesetzes sei eine „Rechtsfrage“, schließlich sei die AfD die „Partei des Rechts“. Und: „Der Zeitgeist hat sich geändert. Starke Frauen schaffen das!“ Es sei denn: „Frauen haben unter Umständen noch Kinder!“
Was ist der richtige Maßstab für eine angemessene politische Repräsentanz von Frauen?
Diskutiert wurde auch die Frage nach dem Maßstab für angemessene Frauen- und Männeranteile an den Landtagskandidaturen bzw. im Landtag: „Ist der Maßstab der Anteil an den Parteimitgliedern oder an der Bevölkerung? Warum, Prof. von Achenbach, bezeichnen Sie die Referenz der Parteimitglieder als ‚schweren dogmatischen Fehler‘?“ Die verfassungsrechtliche Rolle der Parteien sei nicht die Vertretung ihrer Parteimitglieder, Parteien seien Mittler zwischen Staatsvolk und Parlament. Das Wahlrecht solle die Chancengleichheit des Staatsvolkes bezüglich seiner Teilhabe an der Gesetzgebung sichern. Das Parlament vertrete entsprechend nicht die Parteien, sondern es vertrete das Volk. Das Staatsvolk sei deshalb der Maßstab für angemessene Frauen- und Männeranteile im Parlament, nicht die Anteile an den Parteimitgliedern.
Persönliche Bewertungen und Takeaways
Neben viel Inspiration auf vielerlei Ebenen hat die Verhandlung auch die eine und andere möglicherweise notwendige technische Nachbesserung des Gesetzes und inhaltliche Anregung für den weiteren politischen Parité-Prozess hervorgebracht.
Das Prozedere der Neubildung der Wahlliste und die Rolle des Landeswahlausschusses dabei wurden für zu uneindeutig und für die Praxis möglicherweise zu missverständlich befunden.
Präziser ausgearbeitet werden müsste vielleicht auch der Umgang bzw. die Begründung des unterschiedlichen Umgangs mit reinen Frauen-/Männer-Parteien im Vergleich zu Parteien wie NPD und AfD, die sich zwar „geschlechterneutral“ geben, aber faktisch extrem männerdominiert sind.
Auch der Umgang mit kleinen vs. großen Parteien war Thema der Verhandlung und ist sicherlich ein weiter zu denkendes. Prof. von Achenbach wies jedoch darauf hin, dass es keine staatliche Verpflichtung dazu gibt, Wettbewerbsgleichheit zwischen Parteien herzustellen, sondern lediglich dazu, Verzerrungen im Parteienwettbewerb gesetzlich entgegen zu wirken.
Was die empirische Unterfütterung der strukturellen Benachteiligung von Frauen beim Zugang zu Landtagskandidaturen betrifft, so gibt es laut Prof. von Achenbach keine „Beweislast“ seitens des Landtags (wie es der NPD-Vertreter behauptet), sondern vielmehr eine Einschätzungsprärogative. Als Expertinnen wissen wir, dass es nicht an empirischen Studien dazu mangelt. Diese wurden u.a. in die ursprüngliche Begründung des Gesetzentwurfes der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen wie auch in einigen Gutachten der Sachverständigenanhörung zu diesem Gesetzentwurf und damit sehr wohl in den Gesetzesentstehungsprozess einbezogen (anders als es der NPD-Vertreter behauptet). Nichtsdestotrotz wäre eine empirische Analyse des „Nadelöhrs“ Nominierung bei den Landtagswahlen in Brandenburg seit 1990 wünschenswert, also die Erhebung der Frauen- und Männeranteile unter den Bewerber*innen für Landtagskandidaturen im Vergleich zu denen unter den auf Wahllisten bzw. für Wahlkreisdirektkandidaturen nominierten Kandidat*innen.
Für den weiteren politischen Parité-Prozess bedenkenswert war auch die vom Gericht aufgeworfene Frage nach der erwartbaren Wirksamkeit des Parité-Gesetzes, weil die Eignung des Parité-Gesetzes ja durchaus relevant für die Bewertung der Eingriffsintensität sei. Hier traf die Frage des Gerichts „Verspricht die Erststimme nicht mehr Wirksamkeit?“ durchaus ins Mark der hinter uns liegenden politischen Debatten, die das Parité-Gesetz als politischen Kompromiss hervorbrachten. Zunächst stellte Prof. von Achenbach klar, dass die Bewertung eines Gesetzes als geeignet nicht bedürfe, dass es optimal bzw. maximal wirksam sei. Es sei eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers für das mildere Mittel gewesen, die Paritätsvorgabe für die Zweitstimme und nicht (auch) für die Erststimme machen, um die notwendige Akzeptanz zu sichern.
Für die noch bevorstehende nächste Etappe der Erweiterung des Parité-Gesetzes um Vorgaben für die Wahlkreisdirektkandidaturen finden wir jedoch das Argument bedenkenswert, dass dadurch die Wirksamkeit erhöht und die Eingriffsintensität dadurch möglicherweise als geringer bewertet werden würde. Prof. von Achenbach machte aber auch stark, dass die paritätische Wahllistenbesetzung – konkret: der damit verbundene unmittelbare Effekt höherer Frauenanteile im Landtag sowie mittelbare Effekt einer „innerparteilichen Öffnung“(der berühmte „Kulturwandel“) – möglicherweise eine gesetzliche Regulierung der Wahlkreisdirektkandidaturen obsolet machen wird.
Fazit: Wären wir das Verfassungsgericht Brandenburg…
… würden wir bezüglich der Verhandlung zu dem Schluss kommen, dass sich NPD und AfD als vermeintliche „Hüter der Verfassung“ eigentlich selbst disqualifiziert haben. Je länger die Verhandlung andauerte, desto mehr befiel uns die Lust auf eine Satiresendung oder ein Quiz „tatsächlich gesagt vs. frei erfunden“ – auch, um die Aussagen der NPD und AfD für uns weniger unerträglich zu machen.
Auffällig war für uns, dass sie keinen Hehl daraus machten bzw. gar nicht anders konnten als es „herauszuplatzen“, dass sie weniger aus verfassungsrechtlichen denn aus politischen (Gesinnungs-) Gründen gegen das Gesetz sind. Ihre Auftritte fühlten sich ein bisschen wie politischer Wolf im verfassungsrechtlichen Schafspelz an. Aber sind politische Gründe relevant, wenn es um die verfassungsrechtliche Beurteilung eines Gesetzes geht? Das Verfassungsgericht ist für rechtliche Bewertungen zuständig, nicht für politische. Zumal: Politisch wurde über dieses Gesetz bereits am 31.01.20 entschieden – und zwar von einer Mehrheit gewählter Mandatsträger*innen, gegen die Stimmen der AfD-Oppositionsfraktion und ohne die NPD.
Auch drängte sich uns im Laufe der Verhandlung die Frage auf: Darf der Maßstab für Parteienfreiheit die Perspektive von männerdominierten Parteien wie AfD und NPD sein? Geht es denen nicht – logischerweise – um die Verteidigung der Privilegien von Männern und nicht um die Verteidigung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen? „Der Gleichstellungsauftrag verstärkt Diskriminierung“, so der NPD-Vertreter. Das ist nicht nur falsch, schließlich sind die Rechtsfolgen des Parité-Gesetzes für Frauen und Männer identisch, sondern legt die einseitige Bewertung offen. Ja, für bisher privilegierte Männer ist Gleichstellung tatsächlich eine Schlechterstellung. „Die Chancen auf die Wahl ins Parlament wird halbiert“ durch das Parité-Gesetz, so der AfD-Verfahrensbevollmächtigte. Ja richtig, die Chancen für die Männer, die sich bisher doppelt so hohe Chancen ausrechnen konnten.
Was aus Sicht antifeministischer Männer den fairen Wettbewerb behindert, stellt aus Sicht von Feminist*innen eben diesen erst her. Was aus Sicht antifeministischer Männer Ergebnisgleichheit verordnet, sorgt aus Sicht von Feminist*innen gerade mal für Chancengleichheit. „Gleichberechtigung reicht, Gleichstellung muss nicht sein“, mit solchen und anderen Statements verrieten NPD- und AfD-Vertreter immer wieder ihre antifeministische Einstellung. Als Kläger bzw. Beschwerdeführer für verfassungsgemäße Gesetze das verfassungsrechtliche Staatsziel Gleichstellung negieren? Vermutlich finden nicht nur wir das paradox.
Auch diesbezüglich blicken wir gespannt und hoffnungsvoll auf die Urteilsverkündung am 23. Oktober um 10.00 Uhr im Brandenburgischen Landesverfassungsgericht in Potsdam!
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